(Foto: Gerrit Wittenberg)
Die wichtigsten deutschen Klassiker-Stücke stammen – ja, aus England! Seit Herder im 18. Jahrhundert mit seinen Aufsätzen und Briefen über William Shakespeare den Sturm und Drang eingeläutet hat, gehören Shakespeares Stücke zum deutschen Kanon der archetypischen Geschichten, wie sonst vielleicht nur die gesammelten Märchen der Brüder Grimm. Othello steht als Sinnbild für Eifersucht und Fremdenangst, Romeo und Julia für die erste unbedingte Liebe und das tragische viel zu frühe Ende im gemeinsamen Freitod, Hamlet für den ewigen Sohn, der nicht den Erwartungen des Vaters gerecht werden kann, König Lear für den an Altersstarrsinn zerbrechenden Vater bis hin zum Wahnsinn, heute nennen wir es Demenz. Schon an diesen vier Beispielen zeigt sich der Grund, warum wir auch heute die Klassiker gebrauchen können: Was Shakespeare geschaffen hat – Herder nennt es das nordische Drama als Abgrenzung zu der französischen Klassik à la Corneille, Racine und Voltaire – ist zeitlos, weil es unter anderem folgendes Kriterium erfüllt: „wahre Kunst“ entsteht laut Herder nicht aus überlebten Formen und Stück-Konventionen der Vergangenheit (etwa Aristoteles’ drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung), sondern aus der dauernden geschichtlichen Veränderung. Diese muss sich in den Stücken spiegeln, sie bedingen überhaupt erst deren Entstehung.
Der Zeitgeist! Die Stücke müssen aus den menschlichen Erfahrungen der Zeit und aus allgemein bekannten Überlieferungen gespeist sein, sie müssen lebendig und sinnlich sein, nur so können sie den Zuschauer bewegen, verführen, überzeugen oder aufrütteln. Da bei Shakespeare die „Idee“, die „Theorie“ fehlt und er als Schauspieler, Theaterinhaber und Stückeschreiber, ganz aus der Tradition des Jahrmarkt- und Budentheaters kommend, „Geschichten“ erzählt, die im Menschlichen und in seiner Zeit fußen, finden auch heute noch Zuschauer „ihre“ eigene Geschichte in seinem Theater, auf der Bühne gespiegelt, verhandelt, gelöst und sehen sich manchmal auch gescheitert.
Während Herder aber dem „Genie“ Shakespeare prophezeite, auch er selbst werde Opfer der Geschichtlichkeit werden, auch seine Stories würden veralten, auch in seinen Stücken würden sich in der Zukunft die Menschen nicht mehr wiederfinden, hat die Theaterhistorie diese Einschätzung heute widerlegt. Shakespeares Geschichten sind nach wie vor aktuell. Weil menschlich. Aber wie kommt das?
Der Shakespeare Forscher Jonathan Bate schreibt, dass er denke, der Schlüssel zu Shakespeares Unvergänglichkeit läge in einem Paradox. Einerseits sei er die Seele seines Zeitalters gewesen (vgl. Herders Theorie der notwendigen Geschichtlichkeit der Stoffe), andererseits habe er den Blick nicht nur auf „Partikularitäten“ seines historischen Augenblicks gerichtet, sondern habe immer jedes allgemein menschliche Grundproblem mit aufgenommen. Dadurch spräche er in jeder Kultur und zu jeder Zeit zur Gegenwart, zum jeweiligen Zeitalter. Er sei somit immer unser Zeitgenosse.
Sicher, an dieser Stelle kann man anmerken, dass sich aber doch zumindest die Sprache, in der die Klassiker zu uns sprechen, eklatant von der heutigen Umgangssprache unterscheidet. Dass es den immer weniger „klassisch“ geübten Zuschauern immer schwerer fällt, diese „altmodische“ Sprache, auch Vers und Reim, zu verstehen, geschweige denn zu genießen. Das gilt für Shakespeare Übersetzungen des 18. Jahrhunderts genauso, wie für Schiller, Goethe und Kleist. Wer redet heute denn noch so?
Das Neue Globe Theater, welches ich 2015 zusammen mit Sebastian Bischoff und Andreas Erfurth aus der Theaterkompanie Shakespeare&Partner heraus in Potsdam gegründet habe, greift nun genau dieses Dilemma auf. Zum einen gibt es zeitlose Stoffe, Geschichten, Komödien wie Tragödien, in denen sich, ähnlich wie in den Märchen und Sagen, auch moderne Menschen wiederfinden und die wir erzählen wollen. Zum anderen entstand durch die Jahrhunderte eine Sprachbarriere, die zur Zeit der Stückentstehung kein Thema war. Jeder, der im 16./17. Jahrhundert ins Londoner Globe, dem Theater Shakespeares, ging, verstand jedes Wort, jedes Sprachspiel, jede Anspielung. Sowohl die Groundlings, die für einen Penny Eintritt im Parkett standen, als auch der Adel, der in den Rängen saß (die Bürgerlichen mieden übrigens größtenteils diese Theater: sie waren ihnen zu anrüchig und ordinär. Das zum Thema Klassiker = Bildungstheater!). Und auch zu Zeiten des Sturm und Drang verstand das Publikum jedes Wort seines Götz, seines Karl und Franz. Wie kann man also heute dieses Sprachproblem beheben, ohne eine Nachdichtung oder eine Bearbeitung mit populären Mitteln erstellen zu müssen (Beispiel: Hamlet – König der Löwen, Romeo und Julia -West Side Story etc.)
Wir vom Neuen Globe Theater haben uns, ganz in der Tradition der deutschen Shakespeare-Kompanien der 70er und 80er Jahre, dazu entschieden, immer Wert auf eine Neuübersetzung Shakespeares zu legen und diese ggf. auch für uns erstellen zu lassen. So arbeiten wir u.a. seit Jahren mit dem bedeutenden Shakespeare-Übersetzer Maik Hamburger zusammen (Hamlet), haben zwei Übersetzungen bei Frank Patrick Steckel in Auftrag gegeben (Othello und Wie es Euch gefällt) und zuletzt Rolf Schneiders König Lear-Übersetzung zur Premiere gebracht. Allesamt Übersetzer, die anders als zum Beispiel von Mayenburg, versuchen, die Struktur in Wort- und Zeilenanzahl zu erhalten und den Blankvers zu bedienen. Keine Bearbeitung also, sondern eine Überführung der Poesie, der Bilder und der Wortspiele in ein Hier und Jetzt. Und der Erfolg gibt uns recht. Immer wieder hören wir von Zuschauern und Veranstaltern, dass sie selten einen so gut verständlichen, modernen und prallen Klassiker-Theaterabend erlebt hätten. „Shakespeare hätte seine Freude an uns“ lesen wir immer wieder in der Presse und unserem Gästebuch, das wir nach jeder Vorstellung an der Bühnenrampe auslegen, um so mit unseren Zuschauern nach dem Stück nochmal ins direkte Gespräch zu kommen.
Aber wie halten wir es zum Beispiel mit Schiller, von dem wir Die Räuber ins Repertoire genommen haben? Zuerst habe ich, als Dramaturg, in unserer Bearbeitung den „Shakespeare im Schiller“ gesucht. Und natürlich auch gefunden. Richard III., Hamlet, die Gloster-Söhne Edgar und Edmund aus König Lear u.v.m. Und trotzdem: die Sprache! Um mich zu wiederholen: Wer redet denn noch so?
Ich muss etwas ausholen. Eine Erkenntnis aus unserer Arbeit an Brecht (wir spielen höchst erfolgreich seit 2014 Der gute Mensch von Sezuan) ist, dass der Draufblick auf eine Geschichte, der zeitliche und räumliche Abstand, dem Zuschauer hilft, die eigentliche Wahrheit hinter und in den Dingen zu sehen. Verfremdungseffekt nennt er das. Kunst als Mittel der Erkenntnis. Deswegen spielt Der gute Mensch von Sezuan eben nicht in Berlin oder Augsburg, sondern in einem fiktiven China. Die Parallelen werden so deutlicher, weil es um Grundprobleme geht, die jeden Menschen, jede Gesellschaft betreffen. Das Thema beim Sezuan ist im Hier und Heute z.B. die Flüchtlingskrise: Ab wann ist das Boot voll und geht unter?
Aber, widerspricht das nicht dem oben ausführten Herder’schen Ansatz des Zeitgeistes, der Geschichtlichkeit im Falle Shakespeares? Nein, ganz im Gegenteil. Die Figuren bei Shakespeare haben gesprochen, wie ihre Zuschauer, aber kunstvoll, in Versen. Die Kostüme waren wertvoll, aber nie historisch: Es wurde jedes Stück im Kostüm der Shakespeare-Zeit gespielt, auch, um eine Verbindung zur (damaligen) Gegenwart herzustellen. Zum Beispiel trat Julius Cäsar ganz selbstverständlich im Renaissance-Kostüm auf die Bühne, ebenso wie Cleopatra und Macbeth. Und auch das bei Shakespeare durchgängig fehlende Bühnenbild trug dazu bei, die Lebensräume der Protagonisten denen der Zuschauer mit dem Mittel der Fantasie anzugleichen. Man spricht bei Shakespeare von der „Wortkulisse“: Der Darsteller sagt, wo er sich befindet, welche Tageszeit es ist etc. – und der Zuschauer „sieht“ es daraufhin. Ein Spielprinzip, das wir übrigens auch beim Neuen Globe Theater umsetzen. Und, last but not least: Keines der Stücke Shakespeares spielt direkt in England zu Shakespeares Zeit! Auch Shakespeare benutzte bereits die Technik, eine Story zeitlich wie räumlich vom Zuschauer wegzurücken, um so einen besseren Blick auf die eigentliche Geschichte, auf die Konstellationen und Schicksale zu haben, um dadurch Rückschlüsse auf sich selbst zu ziehen. Oder, wenn es um Gefühle geht, sich selbst berühren zu lassen.
Zurück zum Beispiel Brecht: Sprachlich nutzt auch Brecht immer einen Duktus, dem eine gewisse Künstlichkeit innewohnt. Allerdings, da schließt sich ein weiterer Kreis, gespeist aus seinem süddeutschen Idiom. Das „Publikum“ erkennt und versteht diese Kunstsprache, weil sie sich aus dem Erfahrungsraum ihrer Zeit speist.
Was können wir aus diesen Brecht- und Shakespeare-Erkenntnissen nun für unsere Arbeit am Schiller ziehen? Die Tatsache, dass Die Räuber eben nicht heute spielen, z.B. in Hildesheim als Rekrutierungs-Stück über junge Deutsche zum Islamismus o.ä., sondern eine Geschichte in der historischen Distanz erzählen, lässt uns das Aktuelle darin erkennen. Mechanismen in der Radikalisierung, Eifersucht zwischen Erben und Brüdern, Spannungen im Vater-Sohn Verhältnis, Idealisierung von Liebe und das Zerbrechen daran. Themen von heute, mit einem Bogen gespannt ins gestern, der uns sagt: So was gab und gibt es immer und in allen Zeiten wieder. Und manchmal ist es lösbar und manchmal nur närrisch. Und manchmal zerbricht man auch daran.
Bleibt immer noch die für uns heute ungewohnte Sprache Schillers. Unsere erste Idee basierte auf der Erfahrung unserer Neuübersetzungen mit Shakespeare: Warum nicht eine englische Version der Räuber rückübersetzen lassen? Aber da hatten wir die Rechnung ohne den Wirt resp. das Publikum gemacht: Nein, unsere Zuschauer und Veranstalter wollen „ihren“ Schiller, seine Sprache, seine Melodie. Original und ohne Modernisierung. So wie wir ja auch versuchen, in den Shakespeare-Neuübersetzungen die Poesie und den Rhythmus des Originals zu erhalten und lediglich die Bildersprache in eine neue Verständlichkeit überführen. Bleibt als Lösung nur eines: Die Kunst des Schauspielers! Letztlich muss man Schiller, wie auch Kleist, Goethe und Brecht, nämlich so sprechen, dass man beim Zuhören vergisst, dass es ein „Klassiker“ ist. Das ist die wahre Kunst. So erkennen sich auch „moderne“ Menschen in den Geschichten wieder und werden da abgeholt, wo Herder es verlangt hat: Die bunte Mannigfaltigkeit der in Shakespeares Stücken gezeigten Welt wird in der Seele des Zuschauers zur Einheit, indem er fühlt! Das Gefühl wird zum wichtigsten Maßstab des Verständnisses einer Dichtung.
Über den Autor:
Kai Frederic Schrickel wurde 1966 in Offenbach am Main geboren. 1990 bis 1993 Schauspielausbildung an der Neuen Münchner Schauspielschule bei Ali Wunsch-König. Rollen in div. Fernsehserien, u.a. Stadtklinik, SoKo Leipzig, Verbotene Liebe. Festes Ensemblemitglied an der Elisabethbühne Salzburg, Theater der Jungen Welt Leipzig, Casa Nova Essen, Theater Plauen-Zwickau. Stückverträge u.a. im Residenztheater München, Volkstheater Frankfurt/M., bei Stükke Berlin, Theater Görlitz, sowie in verschiedenen Tourneetheater-Produktionen. Er ist Dozent an der Filmschauspielschule Berlin. Regiearbeiten und Assistenzen in Leipzig, Salzburg, Berlin, Potsdam und am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Von 2012 bis 2015 Schauspieler bei SHAKESPEARE und PARTNER. Zusammen mit Andreas Erfurth und Sebastian Bischoff gründete er im Juni 2015 das NEUE GLOBE THEATER, das mit seiner Inszenierung des HAMLET aus der Taufe gehoben wurde. In der zweiten Produktion DIE RÄUBER spielt er seit 2015 den Karl Moor. Im Shakespeare-Jahr 2016 inszeniert er am NEUEN GLOBE THEATER den KÖNIG LEAR von William Shakespeare, wieder mit einem All-Male-Ensemble.
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